Mein Lebenslauf und andere Ungereimtheiten

Ich bin selbstverständlich weiblich. Nebensächlichkeiten wie meinen Namen behalte ich lieber für mich.

Ich lief durchs Leben, seit ich denken konnte. Auch an jenem Tag. Meine Lungen, meine Muskeln, mein Herz und ich waren ein eingespieltes Team, es bestand kein Grund zur Panik – keinem war die Anstrengung anzumerken. Außer mir. Ich fühlte mich erschöpft, auch wenn ich das nie offen zugegeben hätte. Dabei mochte ich gar nicht laufen. Ich tat nur, was ich musste, denn schließlich ging es um mein Glück. 

‚Man muss wissen, worauf es im Leben ankommt.’ 

Ein geflügelter Satz in unserer Familie.

„Warum läufst du so schnell?“

Ich zuckte zusammen. Hörte ich jetzt auch noch Stimmen? Selbstgespräche waren mir längst zur Gewohnheit geworden. Egal, eine Frage verdiente eine Antwort. 

„Ich möchte nicht, dass meine Vergangenheit mich einholt. Sie trägt mir alles nach, was ich nicht haben will, mein Unglück, meine zerbrochenen Träume, mein Versagen.“ 

Das war ehrlich, weil ich es zugab. Und unehrlich, weil ich verschwieg, dass das schon seit Ewigkeiten so ging. Ich holte keuchend Luft.

„Deshalb eile ich der Zukunft entgegen. Dort wartet mein Glück auf mich. Ich spüre, dass ich ihm bereits ganz nahe bin.“ 

„Und gelingt es dir?“ 

„Gelingt mir was?“

„Na, das Davonlaufen.“

Ich zögerte nur kurz mit der Antwort.

„Nein. Meine Vergangenheit hat mich nicht nur regelmäßig eingeholt - sie hat mich sogar überholt, um mir aus der Zukunft entgegenzugrinsen. Manchmal dachte ich, ich wäre bloß im Kreis gelaufen.“

„Und, bist du?“

„Nein, nein, so eingefahren war meine Laufbahn dann doch nicht. Die Landschaft veränderte sich ständig. Das spornte mich an. In den Bergen freute ich mich auf abenteuerliche Klettertouren, im Flachland auf nie gekanntes Tempo. Doch jedes Mal, wenn mir meine Vergangenheit in die Quere kam, wärmte sie die alten Geschichten wieder auf und aus war’s mit der Freude.“ 

Schweigen. Ich hatte nichts anderes erwartet. Was sollte man dazu schon sagen.

„Und das mit dem Ankommen in der Zukunft, wird das denn klappen?“

Diese Frage hatte ich befürchtet. 

„Das weiß ich noch nicht, um ehrlich zu sein.“ 

Ich atmete seufzend aus. Nach allem, was ich erlebt hatte, setzte ich meine ganze Hoffnung auf das, was vor mir lag. Meine Anstrengungen mussten doch endlich fruchten. Zumal ich in letzter Zeit gelernt hatte, noch einen Zahn zuzulegen.

„Kann etwas, das so nahe scheint, so schwer zu erreichen sein?“ 

Diesmal überraschte mich meine eigene Stimme. Sie klang nicht nach mir. Außerdem war ich nicht mehr daran gewöhnt so dämliche Fragen zu stellen. Alles mehr als peinlich.

„Wäre es möglich, dass du bisher etwas übersehen hast? Das Wichtigste überhaupt?“

Er hatte mich voll erwischt. Stocherte wie wild in meinem wundesten Punkt herum. Sich mit meiner größten Angst zu verbünden, ging zu weit.

„Was soll ich übersehen haben?“ 

Ich versuchte gleichgültig zu klingen. 

„Du hast übersehen, dass Vergangenes und Zukünftiges völlig belanglos sind für dich und...“

„Mein Glück und mein Unglück sollen für mich keine Bedeutung haben?“, unterbrach ich ihn. Das war schlichtweg dumm. Ich hatte nichts übersehen, nichts unversucht gelassen. Ich schnaubte verächtlich und behielt mein Tempo bei. Ich war so erleichtert, dass ich beinahe den nächsten Satz überhörte.

„Dein Glück ist nicht belanglos. Im Gegenteil - es gibt nichts Wichtigeres für dich. Genau deshalb solltest du dich nicht um Vergangenheit und Zukunft kümmern. Dort ist das, was du suchst, nicht zu finden.“

Abrupt blieb ich stehen. Ich hielt die Luft an, unfähig, auch nur einen Schritt weiterzulaufen. Der Wind strich verspielt durch die Blätter der Birke, an der ich mich abstütze. Ich konnte echt nicht mehr. Mein Team ließ mich im Stich. 

„Warum laufe ich dann noch?“ 

Meine Stimme war nur ein heiseres Flüstern. 

„Das habe ich dich vorhin schon gefragt.“, ertönte es von weit her. Suchend schaute ich mich um.

„Ich bin der, der weiß, wo dein Glück wohnt,“ wurde meine unausgesprochene Frage prompt beantwortet. Jetzt klang er wieder ganz nah. Er nervte mich.

„Der, bei dem es wohnt, um genau zu sein.“

Ich unterstellte ihm zähneknirschend, dass er lächelte. 

„Du lügst! Was kannst DU über MEIN Glück wissen?! Wo ich ihm selbst schon ewig hinterherlaufe und nicht einen Zipfel davon erhaschen konnte.“ 

Mit suchendem Blick drehte ich mich um die eigene Achse. Ich meinte, ein leises Lachen zu hören.

„Jetzt reicht es aber! Wie kannst du es wagen, über mich zu lachen! Habe ich mich nicht stets bemüht, in die richtige Richtung zu laufen? Habe ich nicht durchgehalten trotz aller Rückschläge? Bin ich nicht weiter gekommen als viele, die ich kenne? Und da wagst du es, mich auszulachen?“

„Ich hab gar nicht über dich gelacht. Ich habe nur das Glück winken gesehen und das wirkte so drollig, dass ich lachen musste. Es hat dir gewunken.“

„Das Glück sagst du? Wessen Glück?“ 

Ich war völlig verwirrt und kurz davor, aus der Haut zu fahren.

„Na, deins natürlich. Es ist seit Ewigkeiten bei mir und wartet auf dich.“

„Wartet auf mich?“ 

„Du sagst es.“

„Warum ist es mir dann immer entwischt, wenn ich ihm nachgelaufen bin?“

„Weil du ihm nachgelaufen bist.“

Jetzt war ich sprachlos. Ich musste mich hinsetzen.

„Schön, dass du endlich mal sitzt,“ kommentierte mein Quälgeist lakonisch. Die Blätter säuselten, als würden sie sich prächtig amüsieren. Ich fühlte mich ausgeschlossen. Meine Beine schmerzten, mein Herz raste, mein Team machte schlapp. Ich ließ mich bäuchlings auf den Waldboden gleiten und schloss die Augen. Schwer war ich, tonnenschwer. 

„Und wo ist mein Glück jetzt?“ 

Anstelle einer Antwort fühlte ich mit einem Mal deutlich, wie der warme Wind sanft über mich hinweg strich, während vereinzelte Sonnenstrahlen meine Wange kitzelten. Ich spürte meine müden Muskeln, mein klopfendes Herz, meinen aufgeregten Atem. Ich war todmüde, aber glücklich, einfach nur so dazuliegen.

Glücklich? Fast hatte ich das Wichtigste vergessen. Ich fuhr hoch und suchte mit meinen Blicken die Umgebung ab. Aufseufzend ließ ich meinen Kopf auf meine Arme sinken und nur, um meine Ahnung bestätigt zu kriegen, fragte ich:

„Und wer bist du?“

Als Antwort stand er plötzlich vor mir. Mit einer Hand half er mir aufzustehen, mit der anderen hielt er mir etwas entgegen. Eine Kette aus unendlich vielen winzigen Perlen. Eine Perlenkette aus Zeit. Und da erkannte ich ihn: den Augenblick - jenen einzigen Moment, der mir wirklich gehört, mir und meinem unfassbaren Glück. Feierlich nahm ich von ihm meine vor Ewigkeiten begonnene Kette in Empfang, mein von mir selbst geerbtes Leben.

Ich kann es drehen und wenden wie ich will, im Augenblick erscheint es mir vollkommen.