Der ganz normale Wahnsinn

(zur Erinnerung an unsere Zeit in Aichach 2001)

Weckergeklingel, viel zu früh, wie immer. Stöhnend drehe ich mich auf die andere Seite, angle nach dem Schalter der Nachttischlampe und knipse das Licht an. Dass diese ersten Sinneseindrücke des Tages immer so überfallsartig und allzu stark über mich hereinbrechen müssen! Ich ziehe die Decke schützend über den Kopf und genieße noch ein paar intensive Augenblicke lang die Wärme meines Bettes. Ich denke an den bevorstehenden Tag, den ich jetzt, nach dem ersten Schreck, fast gelassen willkommen heiße. Ich spüre in mir freudig gespannte Erwartung hochsteigen bei dem Gedanken an die kleinen und großen Überraschungen des Alltags, die sich oft in meinen gut ausgeklügelten Zeitplan einschlichen, die zuerst für Verwirrung sorgten, sich aber im Nachhinein als Glücksmomente entpuppten, als unerwartete Geschenke.

„Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt!“

Entschlossen werfe ich meine Decke zurück, setze mich auf, strecke ausgiebig meine schweren Glieder und stehe nahezu beschwingt auf. Das wäre geschafft. Ich schlüpfe in Socken und Pullover und eile in das untere Stockwek zu den Kinderzimmern. Das Licht im Flur fällt auf Florian, der aus heiztechnischen Gründen keine Zimmertür hat. 

„Jetzt schon?“, murmelt er verschlafen und dreht sich zur Wand. Ich mache Licht bei Felicia, die unter der Decke verschwindet, und wecke zuletzt Phillipp, meinen Ältesten. Jetzt zurück zu Felicia, um ihr mit ihrem Morgenspruch Lust auf den Tag zu machen und schon sause ich wieder die Treppe hoch zum Kaffeekochen. Der Frühstückstisch ist bereits gedeckt und jetzt kommen die Kinder eins nach dem anderen, ihre Augen reibend, zur Türe herein und wanken auf ihre Plätze zu. 

„Ich mag nichts essen!“, lässt Florian verlauten, wie üblich. Dennoch bleibt er am Tisch sitzen und beteiligt sich, immer wacher werdend, an dem allmorgendlichen Geplänkel. Glücklicherweise artet es heute nicht in Streit aus. Das ist immer das Letzte, was ich morgens brauchen kann. Zeit zu fahren, ich muss heute vor den Kindern los. Noch schnell Felicia die Haare gekämmt, einen Kuss auf die Stirn gedrückt, meine Unterrichtsmaterial geschnappt, letzte Ermahnungen losgelassen und schon bin ich unterwegs.

Die Windschutzscheibe ist nur leicht vereist und, obwohl es etwas kühler ist als die Tage zuvor, verheißt der wolkenlose Himmel erneut schönes Wetter. Ungewöhnlich mild ist es für diese Jahreszeit. Immerhin schreiben wir erst Januar, doch singen die Vögel, als stünde der Frühling vor der Tür. Ich lasse Aichach hinter mir. Links vor mir hängt ein noch fast voller, immer größer und goldener werdender Mond am Himmel, während der Rückspiegel zeigt, wie der Horizont rosarot erstrahlt und die ganze Landschaft in einen Hauch von Farbe getaucht wird. Ich genieße es, vom Gebrumm des Motors begleitet durch die Gegend zu fahren und mir vorzustellen, dass ich nicht weiß, was mich am Ende der Reise erwartet, so als würde ich ins Blaue fahren, nur zum Vergnügen. Richtige Abenteuerstimmung kommt auf, die auch von dem Wissen um Ziel und Zweck meiner Reise nicht ganz vertrieben werden kann. Ist denn nicht das ganze Leben trotz allem Vorhersehbaren ein unvorhersehbares Abenteuer? Ist nicht diese herrlich belebende Vorstellung bevorstehender Abenteuer die einzig wirklich angemessene Haltung ihm gegenüber? Wer weiß denn schon, was ihm der Tag bringt?

Auch ich weiß es in Wirklichkeit nicht, denke ich wiederholt, während die Stunden vergehen, ich Fahrt und Unterricht hinter mich bringe, wieder zu Hause das Essen zubereite, meinen Text zu schreiben beginne, unterbrochen von diversen Anrufen: Ob ich noch einen neuen Nachhilfeschüler nehmen möchte, ob ich umsonst verreisen möchte (seltsame Frage, was sind die Bedingungen?). Danach Fahrkarte kaufen, für die Zwei, die Freitag zum Papa fahren, die Jungs zum Faschingsfest bringen und mit Felicia zum Schwimmen gehen. Trotz morgendlicher Gelassenheit gehen mir langsam Atem und Kraft aus. Das Abenteuer hat sich in einen ernsthaften, gar nicht mehr lustigen Überlebenskampf verwandelt und ich in eine Kriegerin, die kurz davor ist aufzugeben.

Während ich so sitze und durchhänge, fällt mir das abendliche Treffen mit meinen Leidenschaftsgenossen ein, deren Werken ich Woche für Woche gespannt entgegensehe, wie einem Lichtblick. Ich fühle mich getröstet. Entschlossen wende ich mich meinem noch unfertigen Text zu. Vielleicht gibt es am Ende dieses immer hektischer gewordenen Tages noch etwas zu genießen, trotz alledem. Seufzend und ein klein wenig versöhnt dank des vagen Hoffnungsschimmers am Horizont des Tagesgeschehens sehe ich zu, wie sich die Worte und Sätze endlich zu einem stimmigen Schluss für meinen Essay zusammenfügen.