Freude an der eigenen Entwicklung

Bereits der Alltag kennt Orte und Situationen, die die Möglichkeit bieten, zu einem wacheren Bewusstsein vorzudringen. Die Schule ist solch ein Ort: Der Umkreis des Schulkindes erweitert sich, neue Stärken und Schwächen werden erfahrbar und durch die Lehrer gespiegelt. Nach Verlassen der Schule tritt der Mensch in die Schule des Lebens, wo er das Gelernte dann anwenden kann.

Meine jüngste Nichte ist fünf Jahre alt und träumt von der Schule. Sie verbringt Stunden damit, auf ihre eigene Art zu lesen, zu schreiben, zu zeichnen. Und die Schultasche ein- und auszupacken. Sie wird nicht müde, sie auf dem Rücken herumzutragen. Seit Wochen versucht sie uns Erwachsene dazu zu überreden, ihr Aufgaben zu stellen. Richtige Aufgaben, an denen sie sich messen kann. Ihre Freude ist unmittelbar und echt. Sie hat nichts mit dem ‹richtigen Leben› zu tun. Sie entspringt ihrem ‹besseren Wissen›.

Ist es nicht erstaunlich, dass sich fast jedes Kind darauf freut, in die Schule zu kommen? Dass es den ersten Schultag herbeisehnt und es kaum erwarten kann, endlich zu den Großen zu gehören? Egal, wie die weitere Schulkarriere verläuft – in dieser Vorfreude spricht sich die Freude des Menschen an der eigenen Entwicklung aus. Denn dafür sind wir Menschen hier: um uns über uns selbst hinauszuentwickeln. Die Schule ist eine Schwelle, die uns daran erinnert, wofür wir auf Erden sind.

Vorbereitung auf die Welt der Großen

In der Schule warten Lehrer und viel ‹Lernstoff› auf die Schüler, unabhängig davon, welcher pädagogischen Ausrichtung die Schule angehört. Die Schulanfänger verlassen die kleine Welt des Elternhauses und des Kindergartens, um sich auf die größere Welt der Schule einzulassen. Dort erwerben sie Fähigkeiten, die sie auf die große Welt der Erwachsenen vorbereiten sollen. Ein Weg, der mit kleinen Schritten beginnt – mit dem Erlernen des Alphabets und der Zahlen – um mit immer größeren Schritten weiterzugehen und niemals zu enden.

Die größte Herausforderung für jeden Schüler ist der Umstand, dass er in der Schule auf dem Prüfstand steht – nicht nur während der offiziellen Prüfungen. In seiner Klasse begegnet er anderen Kindern, die oft aus ganz anderen Lebensumständen kommen, anders erzogen sind als er. Jetzt muss er mit ihnen die Schulbank drücken, muss mit ihnen eine Klassengemeinschaft bilden, muss mit ihnen auskommen, ob er will oder nicht. Das Schulleben bringt es mit sich, dass keiner sich dem prüfenden Blick der anderen entziehen kann. Das ist keine intellektuelle, sondern eine soziale und emotionale Herausforderung, eine, die Angst macht.

Es gibt viele Möglichkeiten damit umzugehen: Das Kind kann Verstärkung unter Gleichgesinnten suchen, es kann sich aber auch so anders fühlen, dass es gar nicht versucht, Anschluss zu finden. Es wird vielleicht die Freuden des Dazugehörens erleben oder den Schmerz des Ausgeschlossenseins und sich darin selbst erfahren – im Spannungsfeld zwischen seinem sozialen (karmischen) Umkreis und den eigenen Bedürfnissen.

Vielleicht erlebt es in dieser Auseinandersetzung irgendwann, wie viel Freude gemeinsames Tun bereitet. Vielleicht findet es unter seinen Mitschülern Freunde fürs Leben.

Das Lernen – eine einsame Erfahrung

Das Lernen selbst jedoch, das Aneignen von neuen Kenntnissen und neuen Fähigkeiten ist eine einsame Erfahrung, die einem keiner abnehmen kann und die je nach Ergebnis mal mit Verzweiflung, mal mit großer Freude einher geht. Lernen führt an die immer wieder neu zu erlebende Schwelle zum eigenen Potenzial, von dem niemand weiß, wie groß es ist.

Lernen ist im besten Fall eine Gratwanderung zwischen Überforderung und Unterforderung – wobei fast jeder im Laufe der Schulzeit in die eine oder andere Richtung kippt. Zu helfen, dass diese Gratwanderung glückt, ist die eigentliche Aufgabe des Lehrers, solange, bis der Schüler sich selbst einzuschätzen und selbstverantwortlich zu handeln gelernt hat. Wann und ob dieser Umstand eintritt, ist eine Frage der Reife, die wiederum mit dem Schulsystem, dem Schulkonzept und mit der individuellen Reife des Lehrers und des Schülers zu tun hat. Es ist eine Schicksalsfrage, wie die Veranlagung des Schülers und der Familie, in die er hineingeboren wurde.

Aus eigenem Antrieb

In jedem Fall bietet die Schule den Schülern Raum, ihre eigenen Grenzen zu überwinden und über sich selbst hinauszuwachsen – in körperlicher, seelischer und geistiger Hinsicht:

1. Sie lernen ihre körperliche Geschicklichkeit zu schulen, erlernen allem voran die große feinmotorische Leistung des Schreibens.

2. Sie erfahren sich als soziale Wesen, als Teil einer größeren Gemeinschaft, in die sie sich einfügen müssen, in der sie aber auch unterschiedliche Verhaltensweisen erüben und verschiedene Fähigkeiten entwickeln können. Sie erleben sich in Beziehungen und reifen daran.

3. Als geistige Wesen entdecken sie die Dimension des Denkens. Sie trainieren ihr Gedächtnis und lernen Zusammenhänge zu erkennen und sie auch selbstständig herzustellen.

Im besten Fall machen sie die Erfahrung, dass Lernen überaus beglückend und erfüllend sein kann, wenn sie lernen, weil sie lernen wollen, aus eigenem Antrieb, ohne Druck und Angst.

Am Ende der Schulzeit überschreiten alle die heiß ersehnte Schwelle zum Erwachsenenleben – und landen direkt in einer weiteren Schule, aus der man erst am Lebensende entlassen wird. Denn wir sind alle Schüler angesichts der immer neuen Herausforderungen, die uns das Leben stellt. Und wir sind alle auch Lehrer und halten anderen die Türen offen zu Räumen, die sich unserem eigenen Bewusstsein bereits erschlossen haben. Wir sind es, solange wir leben. Weil wir Menschen sind und das Leben unsere Schule.

Erschienen in der Wochenschrift "Das Goetheanum" in Heft 08/09 am 29.02.08.