Mit Links
Ich meistere das Leben mit links, immer schon, doch nicht immer habe ich das so hingenommen wie heute.
Unlängst schrieb ich einen Brief an meine Mutter, per Hand, aus nostalgischen Gründen. Ich sehnte mich bei jedem einzelnen Wort nach meinem PC. Mein Sohn saß mir gegenüber und machte seine Hausaufgaben.
‚Er hat viel von mir,’ dachte ich: seine langen Arme, seine blauen Augen und auch seine Linkshändigkeit. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied. Er schreibt mit rechts. Das habe ich mir nicht nehmen lassen. Während ich beobachtete, wie seine Feder über das Papier huschte, katapultierte mich meine Erinnerung unversehens vier Jahrzehnte zurück.
Ich bin fast sieben, meine Zöpfe ragen unternehmungslustig in die Gegend und begleiten wippend jede meiner Bewegungen. Ich gehe gerne zur Schule, vor allem, weil wir endlich eine Füllfeder benützen dürfen. Seit drei Tagen. Ich öffne meine Schultasche, und atme tief ein. Ich liebe den Geruch, diese Mischung aus Leder und Papier mit einem Hauch von Tinte. Sie riecht verheißungsvoll, meine dunkelblaue Tinte. Jedes Mal, wenn ich das Fässchen vorsichtig herausnehme, weiß ich, dass ich jetzt richtig groß bin. Auch diesmal kann ich der Versuchung nicht widerstehen den Deckel aufzuschrauben, obwohl mein Füller noch längst nicht leer ist. Der Geruch spornt mich an und lässt mich fast vergessen, dass das Schwerste noch vor mir liegt. Behutsam nehme ich den Federhalter aus dem Mäppchen, bewundere die blau-melierte Maserung, dann die goldene Feder und verspüre keinerlei Drang, am anderen Ende zu drehen. So was tun nur die Kleinen. Schließlich hole ich tief Luft und mache mich an die Arbeit. Diesmal wird es klappen. Es muss.
Die anderen schaffen das doch auch.
Ich krümme die Finger meiner rechten Hand und packe zu. Mein ganzer Arm packt zu. Und mein geballter Wille. Ich starre beschwörend auf das weiße Blatt, setze die Federspitze auf und zwinge meine Finger zu ziehen. Immer den Buchstaben und Wörtern entlang, die mir meine Lehrerin vorgezeichnet hat. Die erste Zeile lässt Schweiß an meiner Stirne aufperlen. Bei der zweiten zittert meine Hand so stark, dass ich die Linie oft verfehle. Dann, mitten in der dritten Zeile, geschieht es. Ich nehme mein Heft und schleudere es in die Zimmerecke, während mir Tränen der Verzweiflung über die Wangen laufen. Ich schlage mit geballten Fäusten auf das Sofa ein. Erst als ich ihre Stimme höre, bemerke ich, dass meine Mutter in das Zimmer getreten ist. Sie sieht mich besorgt an. Wie so oft in letzter Zeit.
„Das reicht jetzt. Du weißt doch, was der Psychologe gesagt hat.“
Ich weiß es, aber ich verstehe es nicht. Will es nicht verstehen. Da nützt es mir wenig, dass „Psychologe“ fast so schön klingt wie „professionell“ oder „professorisch“. Diese Wörter, die mir alle unverständlich sind, üben einen seltsamen Zauber auf mich aus. Ich merke sie mir und male mir die schönsten Bedeutungen für sie aus. Oft sage ich sie laut vor mich hin und versuche mir vorzustellen, dass ich sie schreiben kann. Im Moment bieten sie mir jedoch keinen Trost. Nicht den geringsten, und daran ist nur der blöde Psychologe schuld. Weshalb mischt er sich schon wieder ein?
„Warum kann ich nicht mit rechts schreiben wie die anderen? Mit der linken Hand verwische ich mir ständig die frische Tinte. Ich möchte es genauso machen wie meine ganze Klasse, bitte! Kein Heft sieht so unordentlich aus wie meins. Keins.“
Ich kann nicht aufhören zu weinen. Meine Mutter steht unschlüssig in der Tür. Sie sieht so ratlos aus. Ich möchte nicht, dass sie sich meinetwegen Sorgen macht. Ich hasse meine rechte Hand. Ich hasse mich. Ich hasse den Psychologen. Er redet meiner Mutter ständig etwas ein und ich muss es büßen.
„Versteh doch, du bist linkshändig, das kannst du nicht einfach wegmachen. Du strengst dich zu sehr an, wenn du mit der rechten Hand zu schreiben versuchst. In den letzten drei Tagen hast du dein Heft fünfmal an die Wand geschmissen. Das bist nicht mehr du, mein vernünftiges großes Mädchen.“
Ich schluchze vor mich hin und überschlage meine Chancen.
Das letzte Mal, als der Psychologe ins Spiel kam, war ich fünf. Richtig klein also. Da musste ich mir Schmetterlinge ansehen und komische Fragen beantworten und danach, als wir heimfuhren, war meine Mutter ganz still. Abends hörte ich, wie sie zu meinem Vater sagte, mit mir würde es noch schwer werden, ich wäre viel zu intelligent. Solch einen IQ sähen die Fachleute nicht gerne. Ich wäre in Gefahr gefühlskalt zu werden. Soll der Psychologe gesagt haben. Den Rest hörte ich nicht mehr, da ich so erschrak, dass ich ins Bett zurückhuschte.
Gefühlskalt. Darum also hatte meine Mutter so bedrückt ausgesehen. Intelligent Sein war wohl eine schwere Krankheit. Eine, bei der das Gefühl abkühlte. Obwohl ich mir darunter wenig vorstellen konnte, schauderte es mich. Intelligent und gefühlskalt, zwei Worte, die mich das Fürchten lehrten – vor mir selbst. Auf meine Liste kamen sie nicht. Dennoch konnte ich nicht aufhören über sie nachzugrübeln.
Und jetzt mischt sich wieder der doofe Psychologe ein. Aus meiner Sammlung fliegt er raus, soviel steht fest. Er ist keinen weiteren Gedanken wert.
‚Linkshändig ist ein guter Ersatz’, denke ich grimmig und schiebe mein Kinn vor.
Intelligent, gefühlskalt und linkshändig sind wirklich schlechte Karten, mindestens so schlecht wie der Schwarze Peter, den ich beim Spielen dauernd ziehe. Meine Chancen sind, genau betrachtet, gleich Null. Soweit kann ich schon rechnen. An mir selbst komme ich nicht vorbei. Sagen beide, meine Mutter und der Psychologe. Ich besiegle meine Niederlage mit einem tiefen Seufzer, fühle mich klein und tue mir schrecklich Leid.
Wieder zurück in der Gegenwart seufzte ich ebenfalls. Mir schien, als hätte ich seit damals nichts anderes getan. Mit dem Schreiben habe ich mich nie richtig anfreunden können. Es blieb ein notwendiges Übel. Ich schielte zu meinem Sohn hinüber. Ihm habe ich ermöglicht, was mir nicht vergönnt war. Seine Hefte sollten nicht so aussehen wie meine. Seine Schrift auch nicht. Er bekam den Zuspruch und die nötige Unterstützung, die man mir verwehrt hatte. Vor allem das Mikroskop, das ihm von den Großeltern in Aussicht gestellt worden war, bewirkte Wunder. Er lernte langsam, aber problemlos mit rechts zu schreiben.
Als er bemerkte, dass ich prüfend in sein Heft schaute, grinste er entwaffnend, wie nur ein Sechzehnjähriger es kann:
„Ich hasse es, mit der Hand zu schreiben, das nützt niemandem mehr heutzutage – warum dürfen wir unsere Hausaufgaben nicht einfach am PC machen?“
Statt einer Antwort starrte ich von seinem Heft auf meinen Brief. Zum ersten Mal fiel mir auf, wie sehr sich unsere Schriftzüge glichen: flüchtig waren sie, krakelig und verkrampft.
Seither frage ich mich, wer letztendlich Recht hatte. Der Psychologe oder ich. Ich werde das Gefühl nicht los, dass wir vielleicht beide die Entfernung zwischen Apfel und Stamm falsch eingeschätzt haben.