Nur ein Übergang
Für die Reihe ‹Schwellenphänomene› wird Katharina Offenborn Orte und Situationen des Alltags darstellen, bei denen der Mensch ein esoterisches Erlebnis hat. Frau Offenborn/Die Autorin beginnt mit dem Krankenhaus als einem Ort, wo sich der kranke Mensch als ein Werdender begreifen kann.
Ich stehe in einem hell erleuchteten, weißgekachelten Raum, bekleidet mit einem weißen Nachthemd, und werde von der Krankenschwester nach meinem Alter gefragt: «Ich bin drei Jahre alt», sage ich voll Freude und bin stolz, es zu wissen. Meine erste Erinnerung, der Schritt über die Schwelle in das Bewusstsein, dass ich bin – ein Aufleuchten erst, eine Ahnung, der Anfang eines Weges, den ich noch immer beschreite. Für mich wurde das Krankenhaus damals die Schwelle zum ‹Ich bin›.
Für andere mögen die Erfahrungen und Umstände im Zusammenhang mit einem Krankenhausaufenthalt ganz anders aussehen – eines trifft immer zu: Das Krankenhaus, das man aufsucht, wenn medizinische Hilfe Not tut, wenn man sich selbst nicht mehr helfen kann, dieser Ort ist für jeden Menschen die Schwelle zu einem Zustand, den er noch nicht erlangt hat. Wegweiser ist das, woran er krankt.
Über das, was war, hinauswachsen
Ob ein Patient im Krankenhaus nun Heilung sucht oder ob er nur eine Diagnose braucht und therapeutische Ratschläge: Wer krank ist, ist noch nicht geheilt, noch nicht schmerzfrei, noch nicht gesund. Hinter den zahlreichen ‹Noch nichts› warten Heilung und Wohlbefinden, wartet Gesundheit, wartet Befreiung. Auch die Menschen, die ihrer Krankheit erliegen, nehmen etwas mit über die Schwelle, eine im Krankheitsprozess errungene, durch den Tod hindurch geborene Erkenntnis, die ihnen niemand nehmen kann.
Wer erkrankt, gerät in eine Krise, hat das Gleichgewicht verloren, wird aus der Bahn geworfen. Er kann nicht weitermachen wie bisher. Jede Krankheit ist ein Aufruf, über das, was war, hinauszuwachsen, den krankmachenden Einflüssen mit neuer Kraft und einem wacheren Bewusstsein zu begegnen, ein neues Gleichgewicht zu suchen. Jeder Kranke geht mit neuen Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten schwanger.
Eine Krankheit ist nur ein Übergang, ist die Vorbereitung für etwas, das seine Zeit braucht, um zu werden, ist Ausdruck neuer Lebensmöglichkeiten, die unbewusst heranreifen – durch alle Schmerzen, Nöte und Ängste hindurch. Das Krankenhaus ist für viele der Ort, an dem sie zum Durchbruch gelangen.
Dieser Prozess geht – wie jede Geburt – einher mit existenziellen Ängsten und Fragen. Der Kranke erlebt Schmerzen, Übelkeit, Schwäche, fühlt sich alles andere als ‹normal›, weiß nicht, was ihn im weiteren Verlauf seiner Erkrankung erwartet. Aufbruchsstimmung macht sich breit, ob man will oder nicht.
Umgeben von helfenden Mitmenschen
Alles Werden erfordert Geistesgegenwart. In der Geistesgegenwärtigkeit ist der Mensch wach für den Augenblick, für den Schritt, der unmittelbar ansteht. Er überschreitet die Schwelle zum Zukünftigen, indem er die Weichen zu einem vollständigeren ‹Ich bin› stellt. Er besinnt sich in der Geistesgegenwart auf seine schöpferische Göttlichkeit und dadurch «ruft er dem, was nicht ist, dass es sei» (aus dem Neuen Testament).
Neue Bereiche mitmenschlicher Möglichkeiten tun sich auf, wenn man als hilfebedürftiges Wesen umgeben ist von helfenden, wissenden, tröstenden Mitmenschen, Das können alle Beteiligten erleben, auch das Personal: Selten ist mir so viel Dankbarkeit entgegengekommen wie in einem Altenheim, in dem ich als junge Praktikantin bettlägerige Menschen pflegen half: Manche von ihnen schienen alltägliche Handgriffe wie das Gekämmt- und Gewaschenwerden als eine Liebkosung zu empfinden, als eine Geste der Liebe. Was es mir umso leichter machte, sie liebevoll zu umsorgen.
Manchmal ist Hilfe von außen gegen die Einsamkeit des Krankseins nur bedingt möglich. Aus dieser Einsamkeit, die manchmal auch auf die Angehörigen übergreift, kann letztlich nur eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn erlösen, die sich der Kranke und seine Familie in dreifacher Weise stellen können:
1. Was bedeutet diese Krankheit für mich?
2. Was bewirkt sie bei den Menschen, die mit der Krankheit zu tun haben?
3. Inwiefern trägt das, was ich durchleide und erringe, zur gesamtmenschheitlichen Entwicklung bei?
Schon die Fragen stellen die Verbindung zum Ganzen wieder her, erlösen aus dem Abgeschnittensein, das der Kranke oft erlebt. Die Antworten ebnen den Weg zu einem Verständnis, das heilt. Das gilt auch für die Hinterbliebenen. Sie sind der Weg und zeigen sich nur Schritt für Schritt.
Mitgenommen werden
Das folgende Erlebnis wurde mir von einem jungen Mann berichtet, der mich gemeinsam mit meiner Nichte besuchen kam, als ich nach einer Operation selbst im Krankenhaus war.
«Meine Verlobte verbrachte drei Jahre in diesem Krankenhaus, auf Station fünf», erzählte er mir. «Sie lag im Koma, nach einem Unfall mit unserem neuen Wagen. Wir waren 18, als wir uns verlobten, lebten seit Kurzem zusammen. Wissen Sie, wie oft ich mir damals Vorwürfe machte, weil ich sie zu der Party hatte fahren lassen? Sie wollte zu einem Treffen mit ihrer Clique, alles Freundinnen in ihrem Alter. Ich wusste, sie würde nicht trinken. Sie trank nie. Dennoch hätte ich sie nicht weglassen sollen. Ich habe sie nach dem Unfall fast jeden Tag besucht, nach der Arbeit. Gegen Ende konnte ich es kaum mehr ertragen, sie so still daliegen zu sehen. Sie ist nie mehr aufgewacht. Nach drei Jahren starb unvermutet ihre Tante, bei der sie aufgewachsen war, die ihr näher stand als ihre eigene Mutter. Zwei Monate zuvor war ein Gehirntumor bei der Tante diagnostiziert worden. Keiner hätte gedacht, dass es so schnell gehen würde. Drei Tage darauf starb meine Verlobte, an einer Lungenentzündung, sagten die Ärzte. Ich und alle, die sie kannten, sehen das anders: Sie hat nicht alleine gehen wollen, hat gewartet. Ihre Tante ist ihr entgegengekommen und hat sie endlich mitgenommen.»
Erschienen in der Wochenschrift "Das Goetheanum" in Heft 08/07 am 15.02.08.