Nötiger Überblick

„Bleib auf dem Boden!“, „Jetzt heb’ bloß nicht ab!“, „Halte Dich an die Tatsachen!“

Im Laufe meines nicht mehr ganz kurzen Lebens habe ich die in diesen Ratschlägen enthaltenen Botschaften genauer zu entschlüsseln gelernt. Sie besagen eigentlich:

„Das, wovon du sprichst, baut nicht auf die Tatsachen, wie ich sie kenne.“

„Du entfernst dich von meiner mir vertrauten Realität!“

„Du fällst aus dem Rahmen meiner Wirklichkeit!“ und sagen mehr über den Standpunkt des anderen aus als über mich. Ich lese darin auch Sorge, Unsicherheit und den Wunsch, am Vertrauten festzuhalten:

„Ich habe Angst, Dich zu verlieren.“

„Ich lade Dich ein, in meiner Nähe zu bleiben.“

„Ich kann mir nicht erklären, wie Du tickst.“

„Ich habe Angst vor dem Fliegen.“

„Ich fühle mich hier unten sicherer – bleib hier bei mir.“

Da mich allgemeine Standpunkte immer weniger interessieren, das Wahrnehmen des Persönlichen, das mich mit anderen Menschen verbindet, dagegen immer mehr, lausche ich hauptsächlich auf diese unterschwelligen Botschaften: Sie rühren und veranlassen mich stets aufs Neue, mich der genaueren Untersuchung dieses viel gepriesenen Bodens zuzuwenden:

Ganz grundsätzlich ist Boden nicht gleich Boden – das weiß jedes Kind und alle, die bereits einen Sandstrand entlanggelaufen sind, barfuss eine Geröllhalde überquert haben, ein tiefes Loch in einem Lehmboden auszuheben versuchten, lockere Erde bepflanzten und beim Graben eines Brunnens unvermutet auf eine Felsplatte gestoßen sind. Ich liebe den Erdboden in all seinen Erscheinungsformen, liebe auch schön verlegte Böden aus edlem Material in den Behausungen meiner Mitmenschen. Wie manche Stunde harter Arbeit unter Einsatz von Schweiß, Ausdauer und Einfallsreichtum habe ich nicht schon in die Bearbeitung und Gestaltung von Böden gesteckt, drinnen wie draußen! Vielleicht spiegelt das meine ernsthaften Versuche, mich mit dem Boden der Tatsachen anzufreunden, mich ihm so weit wie möglich anzunähern – denn Heimat war er mir noch nie. Vielleicht bin ich von Natur aus zu leicht und luftig angelegt, vielleicht leide ich an einem angeborenen Mangel an Erdschwere: Ich brauchte es immer schon von Zeit zu Zeit, Dinge, Menschen und Umstände in größerem Zusammenhang zu sehen und das geht eben nur von einer gewissen Entfernung vom Boden aus. Das geht nur, wenn ich „abhebe“. Auf dem Boden der Tatsachen stehend sehe ich oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Nur mit einigem Abstand offenbart sich meinem forschenden Blick die Schönheit der Zusammenhänge gleich einem kunstvollen Gewebe als atemberaubend spannendes und sinnvolles Zusammenspiel.

Bereits in der Grundschule liebte ich es, hoch in unserem Marillenbaum sitzend zu lesen, verborgen in den Blättern, umsummt von Bienen, mit Ausblick auf den ganzen Garten.

Auch „Nils Holgerson“ trug das Seinige dazu bei, doch vielleicht ist die Lage der Wohnung, in die ich hineingeboren wurde, zum größten Teil Schuld an meiner Liebe zur Überschau. Sie befand sich auf einem steil zu erklimmenden Hügel am Rande des Wienerwalds, mit einem Blick auf die Stadt bis zum Zentrum und darüber hinaus. Selbst die Erinnerung daran lässt mich freier atmen. Heute brauche ich dazu die Freiheit und Weite der Gedanken– und Ideenwelt und die aussichtsreichen Gefilde der schöpferischen Phantasie. Auf den Boden des Greifbaren und Beweisbaren beschränkt, bekomme ich allzu schnell Beklemmungen und fühle mich in Aussichtslosigkeit gefangen.

Doch auch ich benötige zuweilen den Boden des leicht Begreifbaren unter meinen Füßen – nicht als Heimstatt, sondern als Ort für Zwischenlandungen bei meinen gedanklichen Höhenflügen. Wäre ich ein für alle Male an den Boden gefesselt, würde ich es einer Tanne gleichtun wollen, würde langsam aber unablässig emporwachsen und mich gleichzeitig in der Erde verwurzeln, wohl wissend, dass die Wurzeln dem Wachstum nur Helfer sind: Sie ermöglichen es den zarten Spitzen, sich in der Frühlingssonne zu wiegen und versorgen und verankern den Baum bei seinem Wuchs nach oben. Wie kein anderer Baum verkörpert die Tanne die Sehnsucht alles Erdgebundenen nach dem immer höheren Standpunkt. (So betrachtet ist sie tatsächlich der ideale Weihnachtsbaum.) Wer weiß, als Tanne könnte vielleicht auch ich auf dem Boden bleiben.