Begegnung des Geistes im Körper

Schon vor Eintritt in eine Kathedrale mag man Ehrfurcht empfinden. Katharina Offenborn erschließt am Beispiel von Notre-Dame in Paris, wo und wann der Mensch die Möglichkeit hat, im Gebäude und während des Gottesdienstes Schwellenmomente zu erleben. Gelingt dies, kann der Mensch sich selbst in seinem Geistig-Seelischem und dem himmlischen Kosmos begegnen.

Die letzten Osterfeiertage verbrachte ich mit meiner Tochter in Paris. Wir besuchten die Kathedrale Notre-Dame, in der gerade ein Gottesdienst abgehalten wurde. Trotz meiner angestrengten Versuche, den französischsprachigen Priester zu verstehen, drangen seine Worte nur wie von Ferne zu uns als auf- und abwogendes Gemurmel.

Ich ließ meinen Blick durch den gewaltigen Raum schweifen, der sich über und um uns herum auftat. Schier unvorstellbar, wie Menschen in weit zurückliegenden Jahrhunderten ein Bauwerk wie dieses erschaffen konnten. Meine Tochter flüsterte mir ins Ohr: «Spürst du die Energie, spürst du das Kribbeln?» Wir hatten uns, wissend um die Zusammenhänge zwischen der Architektur und dem Körperbau des Menschen, zielsicher an einen der Punkte gesetzt, an denen man die Kraft dieses Ortes auf besondere Weise wahrnehmen konnte.

Architektonisch angelegte Chakren

Ich hatte zuvor meiner Tochter zu vermitteln versucht, dass der Grundriss gotischer Kathedralen dem menschlichen Körper nachempfunden ist, um wie dieser dem Geistigen Raum zu geben: Das Hauptschiff steht für die Achse zwischen Kopf und Fuß, das Seitenschiff für die ausgestreckten Arme. Auch die Energietore des menschlichen Körpers, Chakren genannt, finden ihre Entsprechung in konkreten Punkten der Kathedrale, die mit dem funktionellen Aufbau Hand in Hand gehen: Auf dem Entsprechungspunkt des Kehlkopfchakras, das mit Kommunikation zu tun hat, steht der Altar. Von dort aus spricht der Priester zu den Menschen, dort kommuniziert er mit dem Himmel.

Wir hatten einen Platz nahe dem Punkt gewählt, der dem Herzchakra entsprach. Denn ich wünschte mir an jenem Tag, den Ort und das Geschehen bewusster denn je mit der Kraft des Herzens wahrnehmen zu können. Ich baue selbst an einem Haus und versuchte mir vorzustellen, was es den Menschen damals ermöglicht haben könnte, solche architektonischen Kunstwerke zu erschaffen, solche Räume, die der Schwerkraft in einem Ausmaß trotzen, dass das Gebäude voll Anmut und in Leichtigkeit in den Himmel zu wachsen scheint.

Begegnung von Himmel und Mensch

Plötzlich erreichten deutliche Worte mein Ohr: Der Priester appellierte an eine Mitmenschlichkeit, die alle Unterschiede der Hautfarbe und Kultur überbrücken und umarmen kann, ein Menschengeschwistertum, das im Christentum einen deutlichen Ausdruck findet. Ich schaute mich um und sah Menschen aller Couleur, Menschen aus unterschiedlichen Nationen sich langsam erheben, um gemeinsam den heiligen Augenblick des Abendmahls zu feiern.

Neben mir erhob sich ein dunkelhäutiger Mann und ergriff die Hand seiner hellhäutigen Frau. Ihre Liebe leuchtete aus ihren Augen und ließ die Fenster ihrer Seele in einer Schönheit erstrahlen, die den farbprächtigen Fenstern der Kathedrale in nichts nachstand. Als Nichtkatholikin blieb ich an meinem Platz, fühlte mich aber im Herzen mit eingeschlossen in die Feier des Abendmahls, bei dem der Himmel in Form von geheiligtem Brot und Wein die Schwelle zu uns Menschen überschreitet und uns beim Teilen dieses Sakraments die Möglichkeit eröffnet, in unserem Bewusstsein ebenfalls eine Schwelle zu überschreiten in den Bereich hinein, in dem wir als Menschen miteinander und mit der geistigen Welt eins sind.

Als geistige Wesen ragen wir immer hinein in diese Welt, sind wir Teil von ihr –oft ohne uns dessen wirklich bewusst zu sein. Diese Welt, aus der wir stammen, lädt uns dazu ein, es den Pfeilern der Kathedralen nachzutun und uns im höchsten Punkt unseres Bewusstseins zu berühren und miteinander zu verbinden, um auch im Sozialen die Brücke zueinander zu schlagen und einen gemeinsamen Raum zu bilden, in dem Himmel und Erde sich begegnen können.

Denn was sind Menschengemeinschaften anderes als gemeinsam an der Aufgabe schaffende Menschen, auf vielerlei Arten und von den verschiedensten Ausgangspunkten aus zu versuchen, das Mysterium des Menschseins auszuloten? Und was ist eine Kathedrale anderes als ein Ort, der den Menschen in dreifacher Weise über die Schwelle zum Mysterium des Menschseins führt?

Menschsein

Die Architektur offenbart die Bedeutung des Körpers, der die Begegnung mit dem Geistigen auf Erden ermöglicht. Die Bestimmung der Kirche als Versammlungsraum spricht von der Aufgabe der Seele, die unterschiedlichsten Erfahrungen zuzulassen und dabei sich selbst zu erfahren. Und der Gottesdienst feiert stets aufs Neue das Geschehen der Verwandlung, bei dem der Himmel Mensch wird und der Mensch sich als Teil der geistigen Welt begreift. Unter diesen Gesichtspunkten wird jede Kirche zu einem Ort, an dem der Mensch tiefer und tiefer in Erfahrung bringen kann, was es bedeutet, Mensch zu sein, ein Ort, an dem er sich selbst begegnet.

«Ich spüre es auch, dieses Kribbeln», flüsterte ich meiner Tochter zu. Im gleichen Augenblick stimmte ein Chor aus vielen Stimmen ein Lied an, von dem wir kein Wort kannten und das doch unseres war im schützenden Raum von Notre-Dame, weitab von Konfessions- und Nationalitätskonflikten.

Erschienen in der Wochenschrift "Das Goetheanum" in Heft 08/11 am 14.03.08.